Er und der Tod (Teil 2)

Einige Monate später.
Nach dem ersten Schock nimmt der Alltag
schon wieder seinen normalen Lauf.
Das grösste Leid ist inzwischen zu Ende,
da tritt unverhofft und plötzlich der Tod wieder in das Zimmer.

ER erschrickt,
als der Tod ihn mit seiner furchterregenden tiefen Stimme anspricht.

TOD:
Hallo, mein Freund, wie geht es dir?
Ich habe dich lang nicht gesehn!
Glaub mir, mein Freund, ich wünschte mir,
Wir würden uns besser verstehn.

ER:
Sagte ich denn nicht, schon zu dir:
Du bist für mich kein Freund.
Du bist doch auch heut wieder hier,
Zu bringen Kummer und Leid!

TOD:
Aha, aha - sieh da die Wende,
Heut zollst du mir mehr Respekt!
Heut bist du nicht mehr so behende,
Ich habe dich wohl erschreckt?

ER:
Glaubst du, mein Freund, doch irr dich nicht;
Ich bin nur ein wenig müd.
Mit dir, du aIter Bösewicht,
Ist's immer das gleiche Lied!

Nachdem ER dies gesagt hat,
schläft er im Sessel ein.
Zwei Stunden später wacht er wieder auf und ist darüber erschrocken,
dass der Tod noch immer in seinem Haus weilt.

ER:
Was - du bist noch in diesem Haus?
Was machst du denn jetzt noch hier?
Ich sage dir, gleich fliegst du 'raus,
Wenn ich die Geduld verlier'!

Siegessicher und ironisch ...

TOD:
Weshalb regst du dich denn so auf?
Du scheinst mir ziemlich nervös!
Das Leben nimmt doch seinen Lauf.
Komm, sei mir bitte nicht bös.

ER:
Ich weiss nicht wieso, weiss nicht warum,
Ich bin mir nicht ganz im Bilde.
Mir spukt es in meinem Kopf herum,
Du führst wieder was im Schilde!

TOD:
Du zerbrichst dir den Kopf so sehr,
Halt ein, mein lieber Freund.
Mach dir doch nicht das Leben schwer,
Ich mag nicht, wenn du weinst!

ER:
Deinetwegen weine ich nicht,
Oh, nein, bilde dir nichts ein.
Heut plagt nur eine Sorge mich:
Mein Vater könnt' besser sein!

TOD:
Dein Vater könnt' besser sein?
Was willst du damit sagen?
Sag mir schneit, was ist gemeint?
Ich stelle mir sonst Fragen!

ER:
Es scheint ja bald so, als tät's dir leid,
Doch darauf falle ich nicht 'rein.
Dein falsches Spiel mit der Ehrlichkeit
Kann für mich nicht gefährlich sein!

TOD:
Ha, ha, ha - ja, wenn du wüsstest,
Ha, ha, ha - mein Kamerad.
Ha, ha, ha - ja, wenn du wüsstest,
Ha, ha, ha - wie ich dich mag!

Singend, während er das Haus verlässt ...

TOD:
Ha, ha, ha - ja, wenn du wüsstest,
Ha, ha, ha - mein Kamerad ...

ER bleibt alleine im Haus zurück.
Das eigenartige Verhalten des Todes macht ihm zu schaffen.
ER begreift das Getue und den Frohsinn des Todes nicht.
Mit diesen Gedanken schläft er ein.
Im Traum ist er sehr erregt ...

Von fern her kommt ein Reiter
Über Stadt und Land;
Die Macht ist sein Begleiter -
Er hält uns in der Hand!

Von fern her kommt ein Reiter
Auf einem fahlen Ross.
Erschreckend laut, so schreit er:
"Ich bin hier euer Boss!

Von fern her kommt ein Reiter,
Und er macht uns sehr zu schaffen.
Schwerthiebe, die verteilt er,
Not und Hunger - seine Waffen!

Von fern her kommt ein Reiter,
Er lacht über die Not!
Ganz siegessicher schreit er;
"Mein Name ist der TOD!"

Erschrocken wacht ER aus diesem Traum auf.
In Schweiss gebadet und voller Angst
läuft er sofort  ins Zimmer seines  kranken Vaters
und findet diesen tot auf.
Weinend bittet er:

ER:
Oh, Vater, mein Vater,
Ach, bleibe doch hier;
Oh, Vater, mein Vater,
Geh nicht fort von mir!

In diesem Augenblick betritt auch der Tod wieder das Zimmer
und blickt dem trauernden Mann wortlos in die Augen.
Vorübergehend verliert ER die Beherrschung über sich selbst.
Wütend geht er gegen den Tod an und ruft mit lauter Stimme:

ER:
Was hast du gemacht,
Als ich eben schlief?
Ich hab' nicht gewacht,
Als Vater mich rief!

TOD:
Ob du nun schläfst
Oder hältst die Wacht,
Ich siege stets,
Ich bin es, der lacht!

ER:
Oh, Vater im Himmel,
Steh mir doch bei!
Mein Vater im Himmel,
Gib ihn nicht frei!

Der Tod verschwindet wieder.
ER bleibt gebrochen und alleine im Hause zurück.

Nachdem sich die Kunde vom Ableben seines Vaters schnell verbreitet hat,
wird ER schon bald von den ersten Angehörigen besucht,
die ihm in dieser schweren Stunde Beistand leisten möchten.
Sie finden ihn fassungslos am Sterbebett seines Vaters vor.
Laut spricht er:

ER:
Wieso? Weshalb?
Das frag' ich dich!
Wieso? Weshalb
Verliess er mich?

Ist dies denn nun Gerechtigkeit,
Mein Vater, Gott und Herr,
Wenn man verbreitet solch ein Leid
Und Trauer ringsumher?

Mein Vater war doch ein guter Mann,
Du nahmst ihn mir einfach fort!
Weshalb kam er in des Todes Bann?
Galt denn für ihn nicht dein Wort?

Siebzig Jahre lebte er
Getreu nach deiner Schrift.
Nun gabst du ihn dem Tode her,
Als dieser nach ihm griff.

Mein Herz ist voller Zweifel,
Ob es dich wirklich gibt.
Der Tod, der grosse Teufel,
Hat er dich heut besiegt?

Ein Zeichen, Herr und Gott,
Ein Zeichen gib mir doch bitte.
Ein Zeichen, Herr und Gott,
Dass du bist in unsrer Mitte.

So schön hört sich doch alles an
In dem Neuen Testament.
Ich weiss nicht, ob ich's glauben kann,
Du bist mir plötzlich so fremd!

ER blättert im Neuen Testament,
und plötzlich hält er an folgendem Text inne:

Einer von den Zwölfen, Thomas mit dem Beinamen Didymus,
war nicht dabei, als Jesus kam. Die ändern Jünger sagten ihm nun:
"Wir haben den Herrn gesehen." Er aber erwiderte ihnen:
"Wenn ich an seinen Händen nicht das Mal der Nägel sehen
und meine Finger nicht in die Stelle der Nägel legen
und meine Hand nicht in seine Seite legen kann, glaube ich keineswegs."

Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder in dem Hause,
und Thomas war bei ihnen.
Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte:
"Friede sei mit euch!" Dann sagte er zu Thomas:
"Reich deinen Finger her und sieh meine Hände.
Reich deine Hand her und leg sie in meine Seite
und sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig!"
Thomas antwortete ihm: "Mein Herr und Gott!" 
Jesus erwiderte ihm: "Weil du mich siehst, Thomas, glaubst du?
Selig, die nicht sehen und doch glauben!"

Weinend betet Er:

Mein Herr und Gott, verzeihe mir,
Dass ich dich in Frage gestellt;
Mein Herr und Gott, ich glaube dir:
Du bist der Retter dieser Welt!

Die Angehörigen nehmen ihn zur Seite und begleiten ihn in ein anderes Zimmer.
Dort findet ER nach einigen Augenblicken dann seine Fassung wieder.
Innerlich ist er jedoch gebrochen.
Nicht alleine das Ableben seines Vaters lastet auf seinem Seelenleben,
sondern vielmehr seine eigene Ungläubigkeit im Augenblick grösster Not.
Zu Gott betet er:

Ich habe gesündigt in Wort und Tat,
Ich stellte dich in Frage.
Ich beachtete nicht mehr deinen Rat,
Ich war nicht Herr der Lage.

Hab Gnade, mein Herr und mein Gott,
Ich seh' meine Fehler ein.
Ich zweifelte in grösster Not,
Verdiente nicht Christ zu sein!

Als der Tod dann plötzlich wieder lachend vor ihm steht,
ist Er wieder einigermassen gefestigt,
um gegen die drohende Niederlage anzukämpfen.

Für seine Freunde, die ihm Beistand leisten,
ist der Kampf um das Leben seines Vaters ohnehin schon entschieden.
Daher fordert Er den Tod zürn letzten Mal auf und ruft:

ER:
Verschwinde Satan, weg von hier,
Verlasse dieses Haus;
Ich hatte eben Angst vor dir,
Doch damit ist es aus!

TOD:
Mein Freund, was ist denn los mit dir,
Ich erkenne dich nicht wieder;
Weshalb erscheinst du mutig mir
Und singst keine Trauerlieder?

ER:
Einst sagte ich dir schon,
Niemals bin ich alleine;
Als meines ew'gen Glaubens Lohn
Half Gott mir auf die Beine!

Immer lachtest du mich aus
Und hieltst mich glatt zum Narren,
Doch jetzt schmeisse ich dich 'raus,
Dann hast du nichts zu lachen.

TOD:
Du setzt mich heute vor die Tür,
Ich habe also kein Glück.
Doch eines Tages, schwör' ich dir,
Komme ich zu dir zurück!

Während der Tod zornig das Haus verlässt,
wendet Er sich wieder seinen Freunden zu.
Er freut sich, dass er den Tod in dieser schweren Stunde erneut überwunden hat.
Die Angehörigen begreifen seinen plötzlichen Sinneswandel allerdings nicht.

Sie können ihre Denkweise nicht mit seiner Glaubensvorstenung vereinbaren. 
Für sie ist der Tod tot,
weil sie nicht den tieferen Sinn ihrer eigenen Glaubensbilder erkennen.

Als Er dies wahrnimmt, schreit er vor lauter Erbitterung:

ER:
Weichet doch alle fort von mir,
Ich kann euch nicht mehr sehn.
Weshalb, sagt mir, bezweifelt ihr,
Was in der Bibel steht?

Es gibt ein Leben nach dem Tod;
Jesus hat es bewiesen:
Für ihn war selbst der Tod nicht tot,
Weil er Gott hat gepriesen!

Am dritten Tag ward er befreit,
Er fuhr in den Himmel auf!
Daher hat er niemals bereut,
Dass er den Tod nahm in Kauf!

Während der Schlacht gegen seinen Feind
Stand niemand ihm zur Seite.
In der Stund' hatte er keinen Freund,
Alle suchten das Weite!

Auch mir geht es augenblicklich so,
Ihr lasst mich nun im Stich;
Deshalb bin ich über Gott so froh,
Denn er verlässt mich nicht!

Drum verlasst bitte sofort dieses Haus,
Ich will euch nicht mehr sehn!
Mit unserer Freundschaft ist es jetzt aus,
Von mir aus könnt ihr gehn!

Eins will ich euch doch noch sagen:
Wenn ihr stets zur Kirche geht,
Bitte stellt euch einmal Fragen,
Was zwischen den Zeilen steht!

So wie ihr glaubt, hat's keinen Zweck,
Ihr schadet Gottes Ruf!
Ihr schmeisst Gott einfach in den Dreck,
Gott, der euch einstmals schuf!

Versteht ihr, was ich sage?
Ich hoffe, dass ihr bereut;
Und bittet Gott um Gnade,
Dass er euch alles verzeiht!

So seid ihr nicht verloren
Und erhaltet euren Lohn:
Ihr werdet einst geboren
In Gottes einzigem Sohn!

Gott im Himmel, ich bitte dich,
Wenn sie um Gnade flehn;
Bitte, Gott, dann lasse sie nicht
Einfach im Regen stehn!

Hilf ihnen, so wie mir,
Den listigen Tod besiegen,
Dass sie nie mehr wie hier
Sich so lassen unterkriegen!

Tod, wo ist denn dein Stachel?
Tod, wo ist denn dein Sieg?
Tod, du brauchst nicht zu lachen,
Tod, ich fürchte dich nie!

Roger Rauw
29. Januar 1987 - 08. Januar 1990